Corona und die Matroschka-Krise

Vierschachtelung

Matroschkas sind beliebte Souvenirs aus Russland: Holzpuppen, in denen kleiner Puppen versteckt sind. Dieses verschachtelte Spielzeug ist ein Sinnbild für die momentane wirtschaftliche Krise. Begonnen hat sie mit einer exogenen Krise, die von außen durch die Corona-Pandemie, durch Lockdowns und Schließungen herbeigeführt wurde. Damit Betriebe in dieser Situation nicht massenhaft in den Konkurs schlittern, springt der Staat mit viel Geld (Fixkostenzuschuss, Umsatzersatz) ein. Doch dadurch drohen die Staatsschulden zu explodieren. Hier springen die Zentralbanken ein, die selbst Staatsanleihen aufkaufen und billige Kredite vergeben. So soll das Risiko eines Staatsbankrotts minimiert werden.

Die ursprüngliche Krise wird mit einem Konstrukt begegnet, das das eigentliche Problem umgibt, wodurch der Schaden begrenzt werden soll. Sollte sich dieses Gebilde selbst als problematisch erweisen, wird darum wieder ein Konstrukt darum gebaut, um das Risiko so abzufangen – eine Verschachtlung wie bei einer Matroschka.

Bislang funktionierte dieses System gut. Obwohl die Pandemie nun schon eineinhalb Jahre dauert, hält sich der Wirtschaftsabschwung in Grenzen. Zu größeren sozialen Verwerfungen kam es hierzulande (noch?) nicht. Doch hat es auch zwei große Nachteile: Zum einem werden Probleme so nicht gelöst, sondern nur verschoben. Zum anderen können so kleine Störungen zu grö0eren Krisen führen.

In den letzten Wochen und Monaten wurden einige dieser Störungen sichtbar. Am meisten berichtet wird über Probleme in den Lieferketten, doch eine Energiekrise mit steigenden Preisen sowie Arbeitskräftemangel sind genauso kritisch. In den meisten westlichen Ländern machen sich diese Phänomene durch eine steigende Inflation bemerkbar. In Großbritannien und Spanien führen sie bereits dazu, dass die Wirtschaft auf niedrigem Niveau stagniert.

Überproduktionskrise

Die Bekämpfung der Krise erfolgt nach einem Muster, dass schon in ähnlicher Form bei der Finanzkrise 2008 angewandt wurde. Auch damals bildeten billige Schulden, eine deutliche Erhöhung der Geldmengen sowie die staatliche Übernahme von unternehmerischen Risiken und Verlusten die Eckpunkte, mit der auf die damalige Krise reagiert wurde. Dadurch wurden unternehmerische Gewinne privatisiert, während Verluste und Risiken sozialisiert wurden.

Damals wie heute vergrößert sich so der Unterschied zwischen Arm und Reich. Nutznießer des staatlichen Geldregens sind nahezu ausschließlich große Unternehmen. Denn je größer der Umsatz ist, desto mehr Unterstützung gibt es vom Staat. Für Arbeiter*innen hingegen, die in der Pandemie trotz hohen gesundheitlichen Risikos den Laden am Laufen hielten, fallen im besten Falle nur Brosamen ab. Andere marginalisierte Gruppen wie Obdachlose und Refugees schauen ganz durch die Finger. Sie müssen selbst in der Pandemie in Massenquartieren bleiben. Am dramatischsten ist die Lage in den Pflegeheimen, für die es keine zusätzliche finanzielle und personelle Unterstützung gibt. Ebenso unterbleiben Investitionen in die Infrastruktur. Die Macht der Konzerne wird so weiter ausgebaut.

Dennoch ist auch für sie nicht alles rosig. Denn es gibt zwar viel billiges Kapital, aber wenig Möglichkeiten, es gut zu investieren. Wir befinden uns mitten in einer Überproduktionskrise. Der Staat förderte Unternehmen mit beträchtlichen Investitionsprämien in der Hoffnung, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Dadurch entstand eine so große Nachfrage, dass Zulieferer nicht mehr nachkamen und es zu beträchtlichen Verzögerungen in den Lieferketten kam. Gleichzeitig wird durch die Suche nach lukrativen Anlagemöglichkeiten die Bildung von Blasen begünstigt. Ein Blick auf die Aktienmärkte bestätigt das. In der Zeit der Krise, in einer Zeit von weitreichenden wirtschaftlichen Einschränkungen jagen Dow Jones und DAX (und mit Abstrichen auch der ATX) von einem Rekordwert zum nächsten – und das mitten in einer Krise, in der so viele Menschen wie bislang noch nie auf die Hilfe karitativer Organisationen angewiesen ist.

Problemlöser Sozialstaat?

Der Auslöser für diese Entwicklungen ist die Corona-Pandemie. Wenn die gesundheitliche Krise nicht gelöst wird, gibt es auch wenig Chancen für eine langfristige wirtschaftliche Erholung. Die allermeisten Staaten setzen dabei auf Impfungen – allerdings bislang mit unklarem Ausgang. Trotz hoher individueller Wirksamkeit steigen die Infektionszahlen auch in Ländern mit hohen Impfquoten.
Es wäre also höchste Zeit, die Impfkampagne mit anderen, infektionshemmenden Interventionen zu begleiten. Naheliegend wäre der Ausbau von sozialstaatlichen Angeboten.
Durch Investitionen im Gesundheitsbereich könnten beispielsweise die Anzahl der Spitals- und ICU-Betten erhöht werden. Mehr Geld in der Bildung würde zu kleineren Klassen und damit im Falle des Falles zu kleineren Clustern führen. Ein höherer Personalschlüssel in Alten- und Pflegeheimen würde die Bewohner*innen, die wohl am meisten gefährdete Gruppe, besser schützen. Das über solche Maßnahmen nicht einmal diskutiert wird, sagt viel über den Zustand des Sozialstaates aus.

Tatsächlich gilt nach wie vor das neoliberale Credo der Einsparungen im Sozialbereich. Statteines Ausbaus kommt es zu einem Abbau mit dramatischen Folgen: In Deutschland gingen in den letzten zehn Monaten 3000 von 12.000 ICU-Betten wegen Personalmangels verloren. Im Land Salzburg stehen 10% der Spitalsbetten aus demselben Grund nicht zur Verfügung. Der Pflegekräftemangel ist deutlich in allen Krankenhäusern zu spüren. Kurzfristig müssen deswegen sogar einzelne Stationen geschlossen werden. In Wien werden im Pflichtschulbereich Lehrer*innen eingespart, so dass es fortan größere Klassen gibt. Anstatt für gute Arbeitsbedingungen im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereich zu sorgen, nehmen die städtischen und staatlichen Stellen nehmen lieber die Gefahr eines neuen Lockdowns in Kauf. Mehr muss mensch über den Zustand des hiesigen Sozialstaates nicht wissen.

Sollte die wirtschaftliche Krise an Dynamik gewinnen, sollten noch soziale Verwerfungen im größeren Ausmaß kommen, ist nicht damit zu rechnen, dass dieser in der Lage sein wird, die Auswirkungen abzufedern. Eher wird mit Hinweis auf die Belastungsgrenzen Sozialleistungen gekürzt werden. Als Problemlösung wird er mit ziemlicher Sicherheit nicht in Frage kommen.

Linke Antworten?

An dieser Stelle ist es an der Zeit, die Stopp-Taste zu drücken. Das hier zwischen den Zeilen angedeutete Szenario einer zerplatzenden Blase der Überproduktionskrise, die eine Kettenreaktion auslöst, die den Sozialstaat in die Knie zwingt, während gleichzeitig Corona noch grassiert, ist eben haargenau das: eine Prognose. Wie wahrscheinlich sie ist, ist eine andere Frage. Kein Mensch kann in die Zukunft blicken. Ob bzw. wie stark die Wirtschaftskrise Dynamik aufnimmt, und welche sozialen Verwerfungen dadurch produziert werden, lässt sich momentan nicht sagen. Es sei hier nochmal daran erinnert, dass bislang, nach 18 Monaten Pandemie, die wirtschaftliche Krise überschaubar blieb. Möglicherweise wird es auch so bleiben.

Dennoch bleibt die ökonomische Krise der „Elefant im Raum“. Schon jetzt, in der „überschaubaren“ Wirtschaftskrise ist es so, dass die Reichen reicher werden, während für die „Held*innen“ bestenfalls Brösel überbleiben. Hinzu kommt neuestens, dass es unter dem Deckmantel der Gesundheitsfürsorge der Druck zum Abbau sozialer Errungenschaften massiv steigt. In Österreich kann Ungeimpften das Arbeitslosengeld gestrichen werden, in Deutschland wird die Lohnfortzahlung während einer Quarantäne für sie Impfskeptiker*innen eingestellt. Unter den Linken breitet sich dank dieser Mischung von Gesundheitsfürsorge und Sozialabbau Ratlosigkeit aus. Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren, werden nicht einmal andiskutiert.

Das ist verwunderlich, da die soziale Frage eigentlich ein linkes Kernthema ist. Es gibt massig Theorie zu Schulden und Krise im Speziellen sowie zu Kapitalismus im Allgemeinen. Es gibt dutzende Beispiele von der Praxis gegenseitiger Hilfe in Krisenzeiten.

Es entstehen auch mehr und mehr Anknüpfungspunkte für eine soziale Widerstandspraxis. In einigen Berufsgruppen gärt es. Egal ob Fahrradbot*innnen oder Krankenhauspersonal in Berlin, Sozialarbeiter*innen in Wien, Musiker*innen in Burgenland oder Lokführer*innen in Deutschland, Kindergärtner*innen in Österreich– der Arbeitskampf von Appelen und Demos bis hin zu wilden Streiks ist zurück. Sicher, noch sind es noch wenige Kämpfe, nur selten sind sie erfolgreich. Dennoch ist eine Dynamik spürbar, durch die Arbeitsverhältnisse wieder vermehrt in den politischen Fokus gerückt werden.

Um zum Schluss nochmal auf die Figur der Matroschka zurückzukommen: Es ist klar, dass sich in der Puppe eine andere Puppe mit ähnlicher Form befindet, doch wie diese genau ausschaut, ist eine Überraschung. Ebenso wissen wir, dass wir inmitten in einer Krise sind; möglicherweise wird diese noch härter. Doch ob daraus eine neue solidarische, antikapitalistische Praxis erwächst (bzw. ob wir es schaffen, so eine Praxis mit dazugehöriger Theorie zum Leben zu erwecken); oder ob es zu schwerwiegenden sozialen Verwerfungen kommen wird, wissen wir noch nicht. Zum Glück finden wir die Matroschkas, die Verhältnisse, wie sie sind, nicht vor; wir sind dazu aufgerufen, sie zu verändern!