Retropolitik von links und Sozialprotest von rechts?
Aktionen in der Zeitkapsel
Der 1.Mai als Kampf- und Feiertag der Arbeiter*innen hat eine starke Tradition auch in Wien. Diese ist so stark, dass mensch das Gefühl hat, sich in einer Zeitkapsel zu befinden: Die Welt ändert sich, der 1.Mai bleibt gleich.
In der Früh wendet sich die SPÖ für ein paar Stunden ihren Wurzeln zu. Doch dazu wird die Differenz zur jetzigen Politik sichtbar. Immer weniger Menschen haben Interesse daran. Der SPÖ ist das egal. Sie lügt sich die Teilnehmer*inennzahl zurecht, dass sich die Balken biegen.
Kurz vor Mittag läuft dann die internationalistische Demo. Es ist die Zeit der großen Klage, dass der Kommunismus ja doch Recht gehabt hätte, wenn der Weltenlauf ihm eine Chance gegeben hätte.
Am Nachmittag bzw. am Abend kommt der Auftritt der (Post)Autonomen, die für diesen einen Tag über den Umweg der Prekarität die Arbeiter*innenklasse wieder entdecken.
Dazwischen und danach wird gefeiert, sich selbst auf die Schultern geklopft, sich zu „starken, kämpferischen und lauten Aktionen“ beglückwünscht, und auf den 1.Mai nächsten Jahr verwiesen, der natürlich auch wieder „stark, kämpferisch und laut“ werden wird. Bis dahin wird die Zeitkapsel wieder nicht verlassen!1
Single Issue war gestern
Eine rechte „Corona-Demo“ gehört auch schon fast zur Tradition. Auch sie gibt es bereits das dritte Jahr. Auch hier wirkt auf den ersten Blick alles traditionell: viele ältere Teilnehmer*innnen, sehr viele Österreich-Fahnen und einiges an Verschwörungstheorien.
Überraschend war, dass diese Demo großen Zuspruch erhielt. Womöglich war es die größte Demonstration an diesem Tag.2 Ihr Erfolg lässt sich wohl damit erklären, dass sie nicht mehr nur „Corona“ als einziges Thema bedient. Es war zwar weiterhin sowohl bei der Demo selbst als auch im Vorfeld bei den versachiedenen Aufrufen stark präsent. Doch daneben gab es andere Themen. So wurde gegen die westliche Militärunterstützung genauso wie gegen die Verarmung demonstriert. Damit sind sie deutlich näher am Puls der Zeit als die meisten Linken.
Linke Themen?
Sie greifen damit Themen, die in der Vergangenheit stark von Linken besetzt waren, auf. Antimilitarismus und soziale Kämpfe sind nicht nur linke Kernthemen; ohne sie lässt sich die Enstehung und Entwicklung der verschiedensten linken Bewegungen nicht verstehen. Von Seiten der “Corona-Demos” werden diese Themen aufgegriffen und entsprechend nationalistisch und verschwörungstheoretisch geframed. Hier entsteht die gefahr eines massiven Sozialprotestes von rechts.
Die Stärke der rechten Demo hat folglich viel mit der Schwäche der Linken zu tun. Es reicht eben nicht, an 364 Tagen Arbeit (bzw.-slosigkeit) unpolitisch zu betrachten, und es nur am 365. Tag auf die Agenda zu setzen. Es reicht nicht, selbstbezogen ausschließlich im Lesekreis zu debatieren. Es reicht nicht, anstatt konkreter Arbeitskämpfe zu führen, nur auf Symbole und Geschichte zu setzen.3
Antifaschistischer Selbstschutz & Solidarität?
Zurück zum Ablauf der Aktionen am 1.Mai. Die einzelnen Kundgebungen und Demonstrationen hatten nur wenig Berührungspunkte. Ab 8:00 hielt die SPÖ ihre Kundgebung am Rathausplatz ab. Mehrere Mini-Demos zogen von den Bezirken dorthin. Um 11:00 trafen sich Kommunist*innen bei der Oper. Die demonstrierten über den Ring zum Votivpark, wo ein internationalistisches Fest stattfand. Dorst trafen sich am Nachmittag auch die Teilnehmer*innen der Mayday, welche um ca. 17:00 in Richtung Yppenplatz losging.
Die „Corona-Demo“ sammelte sich ab 13:30 und ging ab 15:00 rund um den Ring. Just in dem Moment, in dem sie sich dem Straßenfest näherte, zog die Mayday-Demo stadtauswärts los und ließ ca. 100 Menschen am Votivpark zurück. Zwar war die Gefahr eines rechten Angriffs wegen der massiven Polizeipräsenz gering. Dennoch war dieses Verhalten das simple Gegenteil von Solidarität. So blieb trotz mancher guten Aktion während der Demo (Farbe auf Abschiebeknast und Polizei) ein schaler Nachgeschmack.
Ouvre la Fenestre!
Zusammengefasst ergibt sich ein desaströses Bild. Die verschiedenen linken Gruppen und Bewegungen sind in ihrer selbstgezogenen Retropolitik gefangen. Auf Veränderungen reagieren sie kaum. Im Gegensatz dazu schafften es die ehemaligen Corona-Demos, ihre Single-Issue Politik hinter sich zu lassen. Sie ist damit erfolgreich. Ein Sozialprotest von rechts droht.4
Linke Bewegungen haben jetzt die Möglichkeit: Sie können sich mit Sprüchen wie „Es war ein starker, kämpferischer und lauter 1. Mai. Bis zum nächsten Jahr!“ selbst die Welt schön lügen, die Retro-Zeitkapsel nicht verlassen, und in die selbstverschuldete Bedeutungslosigkeit versinken. Oder wir können uns selbstkritisch den Herausforderungen stellen.
Ende der 70er Jahre gab es unter den K-Gruppen den Slogan „Ouvre la Fenestre!“ – „Öffnet die Fenster!“5 Gemeint war eine Abwendung von einer starren, dogmatischen Linie und die Öffnung hin zur neu entstandenen Bürger*innen- und Umweltbewegung. Eine ähnliche Frischluftkur würde den Linken der heutigen Zeit auch guttun.
1 Diese Beschreibung ist nicht nur zynisch, sondern auch ungerecht gegenüber all jenen Gefährt*innen und Genoss*innen, die z.B. tagtäglich mühsam Basisarbeit leisten. Sie mögen mir verzeihen. Mir geht es nicht um persönliche Angriffe, sondern um das Aufzeigen von Strukturen und Dynamiken.
2 Zu den ewigen Zahlenspielen: SPÖ zwischen 2.000 (Polizei) und 100.000 (SPÖ), internationalistische Demo: einige Hundert; Corona: zwischen 4.000 (nochrichten) und 10.000(Eigenangabe), Mayday: ca. 3.000
3 Es seien hier die Ausnahmen erwähnt. Folgende konkreten Kämpfe waren am 1.Mai sichtbar: IG24 kämpft gegen Scheinselbstständigkeit der 24Stunden-Pfleger*innen. Riders Collective setzt sich für die Rechte von Radbot*innen ein. Außerdem wurde zu einem eigenen Block der Clubarbeiter*innen aufgerufen, wo u.a. eine generelle Nachtzulage gefordert wurde,
4 Im Aufruf für die “Megademo” am 28.5. war der soziale Aspekt noch präsenter: “Für Österreich, gegen Armut!”, “Heimatliebe statt Globalistendiebe” oder simpel “Für ein leistbares Leben”, natürlich auf einer rot-weiß-roten Fahne,..
5 Siehe: Daniel Cohn-Bendit, Wir haben sie so geliebt, die Revolution (Frankfurt 1987)