“Unsterbliche Opfer” – Gefangen im Kreislauf der Gewalt

Es war ein Moment voller Dramatik und Symbolkraft, der sich am 15. Juli 1934 ereignete. Gerade als der Chor das Lied “Unsterbliche Opfer” beendete, brach die Polizei gewaltsam ein. Schüsse wurden abgefeuert, und drei mutige Menschen stellten sich den Angreifern entgegen. Zwei von ihnen verloren ihr Leben, der Dritte wurde schwer verletzt. Ein fortlaufender Kreislauf der Gewalt nahm seinen Lauf, der unaufhörlich neue Opfer forderte. Paradoxerweise war sogar das Gedenken an die bereits Gefallenen Teil dieses verhängnisvollen Zyklus, was letztlich neue Opfer hervorbrachte. Josef Gerl wurde das jüngste Opfer in dieser schmerzhaften Abfolge und wurde am 24. Juli hingerichtet.

Der Ursprung der Gewalt reichte Jahre zurück. Am 30. Januar 1927 eröffneten Mitglieder der protofaschistischen “Frontkämpfervereinigung” in Schattendorf, im Burgenland, das Feuer auf eine sozialdemokratische Demonstration, bei der zwei Menschen den Tod fanden. Doch die Verantwortlichen blieben ungestraft. Die Justiz versagte. Als der Prozess ein halbes Jahr später stattfand, wurden die Täter freigesprochen. Dies führte zu einem Aufschrei in der Wiener Arbeiter*innenschaft, die den Justizpalast stürmte und in Brand setzte. Die Polizei antwortete mit brutaler Gewalt, wobei 89 Menschen starben und 1600 verletzt wurden.

Die Opfer sollten nicht vergessen werden. Jahr für Jahr fand Mitte Juli eine bedeutende Gedenkkundgebung statt, um ihrer zu gedenken. Selbst als die Austrofaschistinnen an die Macht kamen und die Arbeiterinnenparteien verboten wurden, wurde diese Tradition aufrechterhalten. Am Wochenende vom 13. bis 15. Juli sollten Aktionen stattfinden, um an die blutigen Ereignisse von 1927 zu erinnern.

Am Freitag war eine stille Gedenkveranstaltung auf dem Zentralfriedhof geplant, wo die Gräber der Opfer lagen. Die Polizei schloss jedoch die Tore, was nur wenigen Linken erlaubte, an den Gräbern zu gedenken. Dies führte zu kleineren Straßenschlachten vor dem Friedhof. Am Samstag waren dezentrale Aktionen geplant: Blitzkundgebungen, das Verteilen von Flugblättern, das Malen von Slogans an Häuserwände und das Singen der “Internationale”. In einigen Bezirken brachen spontane Demonstrationen aus. In der Nacht kam es erneut zu Gewalt seitens der Polizei, als ein Polizist auf eine Gruppe schoss, die Parolen aufmalte. Glücklicherweise wurde niemand verletzt, doch der Vorfall verdeutlichte die angespannte Lage und den sich erneut drehenden Kreislauf der Gewalt.

Der Höhepunkt dieser Aktionstage sollte am Sonntag stattfinden, mit einer Kundgebung zu Ehren der gefallenen Demonstrant*innen im Wienerwald auf der Predigtstuhlwiese. Obwohl die Veranstaltung illegal war und die organisierten Gruppen und Parteien bereits vor Monaten verboten worden waren, riskierten etwa 3.000 Menschen Strafen, um teilzunehmen. Der Weg zur Kundgebung war durch Streuzettel markiert, auf denen die bekannten drei Pfeile abgebildet waren. Bäume auf der Predigtstuhlwiese waren mit antifaschistischen Transparenten geschmückt. Der Tag hätte harmonisch verlaufen können, wäre da nicht die Polizei gewesen.

Die Eskalation wurde von der örtlichen Polizeieinheit in Kaltenleutgeben ausgelöst. Sie plante einen Überraschungsangriff, um die Kundgebung zu unterbinden. Selbst eine Gruppe evangelischer Pfadfinder wurde kurz vor der Kundgebung festgenommen, um sicherzustellen, dass die versteckte Polizeiposition im Wald nicht verraten wurde. Der Überfall erfolgte rasant und unangekündigt. Just als der Chor das Lied “Unsterbliche Opfer” beendet hatte und Rosa Jochmann zu sprechen begann, eröffnete die Polizei aus dem Wald das Feuer. Die Teilnehmer*innen der Kundgebung flohen panisch. Nur wenige stellten sich der Polizei entgegen, zwei von ihnen wurden getötet und ein Dritter schwer verletzt, woran er am nächsten Tag verstarb. Das Feuer wurde genauso plötzlich eingestellt, wie es begonnen hatte. Die Polizei hatte “lediglich” die Auflösung der Kundgebung beabsichtigt, doch drei Menschen zahlten dafür mit ihrem Leben.

Doch damit endet die Geschichte nicht. Der Kreislauf der Gewalt setzte sich fort. Josef Gerl, ein junger Mann, der an der Kundgebung teilgenommen hatte, verlor einen Freund durch die Schüsse der Polizei. Er konnte diese Gewalttat nicht tatenlos hinnehmen und plante Rache. Drei Tage nach dem Polizeiüberfall verübte er einen Sprengstoffanschlag auf die Donauuferbahn, bei dem vergleichsweise geringer Sachschaden entstand. Noch in derselben Nacht wurde Gerl, gemeinsam mit einem Mittäter, gefasst, wobei er auf einen Polizisten schoss und diesen schwer verletzte. In einem Schnellverfahren wurde er zum Tode verurteilt. Während sein Mitgefangener begnadigt wurde, wurde Josef Gerl am 24. Juli gehängt. Er wurde posthum zu einem Volkshelden und erhielt in Moskau ein nach ihm benanntes Kinderheim. Eine Kompanie der “Internationalen Brigaden” trug seinen Namen, und in Wien wurde ein Gemeindebau nach ihm benannt. Besonders seine mutige Verteidigung und seine Aussagen vor Gericht verschafften ihm Sympathien. Sein bekanntestes Zitat lautete: “Das Ideal stand mir höher als mein Leben.”

Dieser Satz bildet die Quintessenz des Kreislaufs der Gewalt. Dennoch sollte erwähnt werden, dass in diesem Fall die Gewalt überwiegend von den Austrofaschistinnen ausging. Dies wurde besonders deutlich bei der Kundgebung im Wienerwald. Hätte es keinen Polizeieinsatz gegeben, wäre das Totengedenken friedlich verlaufen. Stattdessen verloren vier Menschen ihr Leben. Der Beitrag und die Provokation seitens der Arbeiterinnenbewegung bestanden darin, trotz der Gefahr an ihren Ideen einer sozialistischen Gesellschaft festzuhalten. Selbst unter Lebensgefahr ließen sie sich nicht davon abbringen, lautstark für eine gerechtere Welt einzustehen. Dies ist der größte Unterschied zur heutigen Zeit. Ein derartiges Beharren könnte heute als leichtsinnig und sinnlos betrachtet werden, was hauptsächlich auf den Sieg des Kapitalismus zurückzuführen ist. Dies macht die Erinnerung an diese längst vergangenen Ereignisse umso wertvoller, da sie Alternativen aufzeigt und verdeutlicht, dass es sich lohnt, für eine bessere Zukunft zu kämpfen.