„Würdest du ihn verraten?, fragte sie. Ich verstand nicht.
„Wenn du ihn treffen würdest, würdest ihn den Bullen übergeben?“
Sie deutete mit ihren Kopf auf den Bildschirm.
Dort war ein Junge zu sehen. Kurz geschnittene Haare, schwarzer Hoodie, schaute ziemlich gewöhnlich aus. Der Text daneben verriet, dass er abgängig sei. Er sei mit Auto unterwegs und sei psychisch krank. Er brauche dringend seine Medikamente. Das „dringend“ war groß und fett geschrieben. Es wirkte ernst.
Ich war ratlos.
„Sowas macht mir Angst“, meinte sie. „Wer weiß, was passiert ist? Wer weiß, warum er abgehauen ist?“ Sie machte eine kurze Pause. „ Die Menschen sind bereit, ihre Nachbarn zu verraten; ihre Freunde. Und das Ganze nur, damit sie ein Stück falsche Sicherheit bekommen. Und falsches Glück.“
Ich war misstrauisch. Waren wir nicht selber drauf? MDMA- Ein Stück von außen, um innen ein klein wenig Glück zu bekommen. Und das soll besser sein als das falsche Glück, das sie kritisierte?
„Nein, nein“, widersprach sie, „ Es gibt Tage, meistens sind es Nächte, die passen einfach. Die richtigen Schwingungen, die richtige Luft. Leute, die sich verstehen, ohne dass sie miteinander sprechen müssen. Natürlich sprechen sie trotzdem. Heute ist so ein Tag.
MDMA kann dabei helfen, aber du kannst es nicht erzwingen. Du musst offen sein, du musst deine Angst hinter dir lassen. Und das da“, sie deutete mit ihren Kopf wieder auf den Bildschirm, wo längst schon was anderes lief, „ hindert uns daran. Es will, dass die Angst gewinnt; dass wir uns nicht mehr kennenlernen können, wie wir sind, ohne Masken.“
Ich blieb skeptisch. Wo ist jetzt genau der Unterschied zwischen richtigem und falschem Glück? Und warum ist Glück überhaupt so wichtig?
Mir fiel die Geschichte ein, wie die Tauben die Menschheit retteten. Dass Töne und Melodien die Stimmung beeinflussen können, ist schon lange bekannt. Nun aber hat die Wissenschaft die perfekten Töne und die perfekte Melodie gefunden. Sie aktiveren das Gehirn , sie machen perfekt glücklich. Das Verständnis von Sprache und auch von Mathematik wird stark angeregt. Du hast plötzlich Lösungen für wissenschaftliche Probleme, von denen du vorher gar nicht gewusst hast, dass es sie gibt. Und dabei fühlst du sich ganz locker, leicht und frei. Verständlich, dass die Leute darauf abgefahren sind. Sie haben alles liegen und stehen lassen, nur um die Möglichkeit zu bekommen, diese Musik zu hören. Und sie haben sich dabei selbst und ihre Umgebung vollkommen vergessen.
Die Einzigen, die bei diesen Spiel nicht mitmachten, waren die Tauben. Die waren ordentlich sauer, weil sie schon wieder außen vor bleiben mussten. Und nun gab es die allgemeine Glückseligkeit, und sie waren wieder ausgeschlossen. Sie machte sich also auf den Weg dorthin, wo die Musik gespielt wurde. Unterwegs schlossen sich ein paar Wenige an, die mit dem Glück wenig anfangen konnten.
Sie kamen an den Platz, wo die wunderbaren Töne und Melodien gespielt wurden. Wie von Sinnen begannen sie, auf die Menschen einzuschlagen. Die Zuhörer waren so in ihrer Welt gefangen, dass sie die Schläge und Tritte, die Stöcke und Steine, gar nicht richtig wahrnahmen. Sie ließen sie vollkommen passiv auf sich sich niedergehen. Erst als Blut floss, erwachten sie langsam aus ihrem Traum. Viele waren schon abgemagert und ausgetrocknet; in ihrem Wahn haben sie sich nicht einmal um Essen und Trinken gekümmert.
Die Tauben hatten also die Welt gerettet. Doch ihnen wurde nicht gedankt. Den Menschen war es peinlich, wie leicht sie sich verführen ließen. Deshalb wurde die ganze Geschichte schnell vergessen.
Ihr gefiel die Geschichte. Sie lächelte. „Vielleicht ist er“, sie deutete mit dem Kopf wieder Richtung Bildschirm zu dem Jungen mit dem Hoodie, „ Vielleicht ist er ja einer der Tauben.“
Nein, ich würde ihn nicht verraten.