Die Stunde der Besserwisser*innen
Es ist die Stunde der Besserwisser*innen. Noch vor zwei, drei Wochen wusste niemand etwas über den Virus. Und jetzt sitzen Millionen Expert*innen zu Hause vor ihren Computer und geben anderen Menschen Verhaltensratschläge und fordern Bestrafung für jene, die sich nicht an ihren wohlfeilen Fingerzeig nicht hören.
Derweil ist die Sache ziemlich einfach: Die letzte sich schnell ausbreitende Pandemie ist schon gefühlt tausend Jahre her. Es können also nicht einmal echte Fachkundige mit Sicherheit sagen, welche Maßnahme mit Sicherheit wirken und welche nicht. Auch über das Virus selbst ist noch wenig bekannt. Wie wird es übertragen, welche Mortalitätsrate gibt es, wie wahrscheinlich mutiert es? Darüber gibt es nur Annäherungen, nur Wahrscheinlichkeiten, nur Modelle, keine Sicherheiten.
Ich für mich nehm diese Unsicherheit, diese Unwissenheit gerne in Kauf. Als Informationsjunkie hab ich, während andere Lebensmittel hamstern waren, Informationen gehamstert. Mein Wissensstand gleicht also den der eingangs genannten Expert*innen. Dennoch steh ich mit leeren Händen da. Wenn ich hier mein Unwissen preisgebe, so hoffe ich damit einen Raum des Zweifels, auch des Selbstzweifels (Ich habe meine Meinung zu der Pandemie in den letzten 14 Tage sicher dutzendmal geändert), zu öffnen, und damit auch einen Raum der Diskussion.
Klar ist, obwohl wir wenig wissen, muss gehandelt werden, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Klar ist auch, wir wissen nicht, was die richtigen Handlungen sind. Aus diesem Zwiespalt erwächst eine Angst, die nur allzu gerne und allzu oft geleugnet wird. Diese Furcht potenziert sich mit dem Brustton der Überzeugung, die die eigene Unsicherheit verdrängen soll. Verbunden mit einer namens- und formlosen Furcht als Grundstimmung unserer Zeit gebärt sie wahre Monster.
Ein Krieg gegen den Virus?
Die Fratze des Monsters zeigt sich in den repressiven Notfallgesetzen und der breiten Zustimmung zu diesen. Quarantäne war immer das Mittel der Wahl bei Pandemien. Doch sie waren nie ganz wirksam, denn es konnte und es kann nicht scharf zwischen Gesunden und Kranken unterschieden werden. Es gab und gibt Gesundem die dennoch infiziert sind, und so die Pandemie weiterverbreiten. Die Reaktion des jetzigen Gesundheitsstaates kommt einem von diversen Verschärfungen des Überwachungsstaates sattsam bekannt vor: Alle sind potentiell Überträger – und damit muss es präventive Quarantäne für alle geben. Die Ausgangssperre ist die Ultima Ratio der Aufstandsbekämpfung. Nun wird sie präventiv für die Gesundheit eingesetzt. China Überwachungstechniken galten im Westen lange Zeit als Warnung, als Gefahr für die persönliche Freiheit. Nun werden sie Vorbild. Es gibt nur eine repressive, ja sogar militärische Reaktion des Staates auf die Seuche.
Deutlich wird das in der Sprache. Da wird zu einem Krieg gegen den Virus aufgerufen. Krankenhäuser werden zu Schützengräber umgedichtet, Ärzt*innen und Pflerger*innen befinden sich scheinbar an der Front. Dagegen wird ein kollektives Wir mobilisiert, ein „Team Österreich“, das jeden Tag um 18:00 mit „I am from Austria“ zwangsbeschallt wird. Doch die Strateg*innen und Möchtegern-Feldherrn vergessen eines: Ein Krieg wird zwischen zwei einigermaßen gleich starken Armeen geführt. Der Albtraum der Militärs sind Partisan*innen, jene kleinen und mobilen Einheiten, gegen die mit rein militärischen Mittel nicht gewonnen werden kann. Wie wollen sie dann gegen einen Virus, der mit freien Auge nicht sichtbar ist und der sich schnell von Mensch zu Mensch weiterbewegt, siegen?
Auch in der Vergangenheit war die Abschottung, die Quarantäne, nie der alleinige Schlüssel zum Erfolg bei der Bekämpfung von Seuchen. Erst die Verbindung mit sozialen Maßnahmen brachte Erfolg. Die Cholera wurde durch die Zuleitung von Frisch- und Quellwasser in die Städte beendet. Bei der Spanischen Grippe war es die Verbesserung der Lebensmittelversorgung, und im Falle der Tuberkulose war es der soziale Wohnbau, die zu ihrem Verschwinden beitrugen. Aber über soziale Maßnahmen wird bei uns nicht einmal nachgedacht, nicht einmal angesprochen geschweige denn diskutiert. Mit rein repressiven Maßnahmen wird hoffentlich (!) die Pandemie verlangsamt, gelöst wird dadurch jedoch nicht.
Auf der Suche nach Alternativen
Es bleibt die Frage nach Alternativen. Ich könnte sie durch meine Position des Unwissens zurückweisen, doch das würde nur die Ausweglosigkeit steigern. Und es ist diese Alternativlosigkeit, die und vielleicht zähneknirschend, aber doch, die Ausgangssperren etc. akzeptieren lässt. Es würde auch heißen, das Feld den Besserwisser*innen, den selbsternannten Expert*innen zu überlassen. Die Unwissenheit und die Zweifel dürfen nicht als Ausrede dazu dienen, nichts zu tun – selbst auf die Gefahr hin, dass das falsch ist.
Wir werden scheinbar vor die Wahl gestellt zwischen der Akzeptanz der Maßnahmen und einem barbarischen Nichtstun, durch das sich die Seuche weiter unkontrolliert ausbreiten kann.
In einem ersten Schritt muss es also darum gehen, sich überhaupt Alternativen vorstellen zu können. Wie die Genoss*innen des Ex-Workers Collective feststellen, fehlt uns dazu noch die Diskussion:
Grundsätzlich besteht das Problem darin, dass uns ein Diskurs über Gesundheit fehlt, der nicht auf einer zentralen Steuerung beruht. Über das gesamte politische Spektrum hinweg basiert jede Metapher, die wir für Sicherheit und Gesundheit haben, auf dem Ausschluss von Unterschieden (z.B. Grenzen, Absonderung, Isolation, Schutz) und nicht auf dem Ziel, eine positive Beziehung zu Unterschieden zu entwickeln (z.B. die Ausweitung der Gesundheitsressourcen auf alle, auch außerhalb der Grenzen der USA).
Wir brauchen eine Vorstellung von Wohlbefinden, die körperliche Gesundheit, soziale Bindungen, Würde und Freiheit als miteinander verbunden begreift. Wir brauchen eine Art und Weise, auf Krisen zu reagieren, die auf gegenseitiger Hilfe beruht – die den Tyrannen nicht noch mehr Macht und Legitimität verleiht.
Wir müssen also überhaupt erst eine Sprache finden, um diese Diskussion zu beginnen in der Hoffnung, dass es am Ende tragbare Alternativen gibt. Ein Blick nach Asien kann dabei hilfreich sein: Südkorea schaffte es mit massenhaft Tests, aber ohne Ausgangssperren, die Pandemie in den Griff zu bekommen.
Als unbedingte Sofortmaßnahme ist es wichtig, das Feld des Sozialen zu verteidigen. Pflegen wir unsere Freundschaften, so wie es uns richtig erscheint. Kümmern wir uns um die, die Einsamkeit schlecht aushalten, die sich jetzt abschotten, weil ihnen alles zu viel wird, denen die Decke auf den Kopf fällt genauso wie um die, die von der Seuche besonders bedroht sind. Gerade in dieser Situation ist Solidarität und gegenseitige Hilfe von enormer Bedeutung.
Ein weiteres Puzzlestück ist die Verbesserung des staatlichen Gesundheitssystems. In unseren Diskussionen und in unserer zukünftigen Praxis müssen wir zwar deutlich darüber hinausgehen (siehe oben), doch als erste Schritte sind Verbesserungen innerhalb dieses Systems unumgänglich. Vereinfach gesagt ist das Problem an diesem Virus die fehlende Grundimmunisierung, wodurch es zu einer schnellen Ausbreitung kommt, wodurch das Gesundheitssystem schnell an seine Grenzen gelangt. Wäre es in den letzten Jahrzehnten nicht kaputtgespart worden, wären wir jetzt deutlich besser vorbereitet. Das ganze Gerede von „Flatten the Curve“ zielt ja nicht darauf ab, die Anzahl der Ansteckungen, der Kranken zu vermindern, sondern nur sie herauszuzögern, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Es ist primär also weniger ein gesundheitliches Risiko als ein infrastrukturelles, es ist eine Krise des Gesundheitssystems.
Es führt aber kein Weg daran vorbei, die Ursachen der Pandemie anzugehen. Wir müssen also im besten Sinne des Wortes wieder radikal (radix lat. = Wurzel) werden. Sehr wahrscheinlich ist der Ausbruch des Virus auf die veränderten sozialen und wirtschaftlichen Bedienungen in China zurückzuführen. Die Kapitalisierung der Landwirtschaft und die Verstädterung bei gleichzeitig miesen sozialen, ökologischen und medizinischen Bedienungen für den Großteil der Bevölkerung waren auch schon in der Vergangenheit der Ursprung für globale Seuchen. Hier in Europa war der Wintertourismus in Tirol der Turbobeschleuniger für die Ausbreitung des Virus. Dieser ist schon lange für miese Arbeitsbedienungen, für das Ignorieren von Gefahren und für die Konzentration von Geld und Macht in den Händen bekannt. Das einzige Ziel war nur das schnelle Geld. So sorgten letzten Herbst Pläne, einen Berggipfel zu sprengen, um ein neues Skigebiet zu schaffen, für Wirbel – obwohl der Skibetrieb in Zukunft dank des Klimawandels unsicher ist. Durch diese Mentalität wurde Gefahr, die von Corona ausgeht, ignoriert. Stattdessen gab es Business as Usual. So wurden hunderte Tourist*innen angesteckt, die danach in ihre Heimat zurückkehrten und den Virus weiter verbreiteten.
Wenn wir also langfristig die Pandemie bekämpfen wollen, werden wir an Antikapitalismus nicht vorbei kommen. Bis dahin ist es allerdings ein weiter Weg – ein Weg, der im Nebel liegt und wo wir praktisch ohne Wegweiser auskommen müssen. Ob wir in die richtige Richtung gehen oder ob wir uns vollkommen verirren, wissen wir nicht. Um die Gefahr zu minimieren, brauchen wir einander, brauchen wir eine intensive Diskussion. Deswegen klinkt euch ein: Übersetzt Texte aus betroffenen Gegenden! Teilt eure Erfahrungen, eure Gedanken, eure Ängste und Hoffnungen! Nur gemeinsam können wir der Barbarei des Virus und der Barbarei des Staates die Stirn bieten!
Zum Abschluss noch ein paar Links:
medico international waren wahrscheinlich die Ersten, die sich kritisch mit der Pandemiebekämpfung auseinandersetzten
Texte und Übersetzung von Sebastian Lotzer, manchmal etwas fatalistisch, aber auf jeden Fall lesenswert!
Solidarisch gegen Corona sammelt, übersetzt und schreibt selbst Texte gegen den Wahnsinn mit ein paar Handlungsmöglichkeiten. Hier ist eine Übersetzung der Angry Workers aus London