Wie fast jedes Jahr ging ich am Neujahrstag zur Mittagszeit mit meiner Kamera raus. Ich mag es, Photos von den Überbleibsel der Silvesternacht zu machen. Sie haben so etwas Melancholisches: Die Party ist vorbei, der Kater bleibt.
Doch dieses Jahr wurde ich bitter enttäuscht. Denn bereits um 12:00 waren so gut wie alle Spuren weggewischt. Die Parks waren zusammengeräumt, die Mistkübel leer, die Raketenreste weggebracht, die leeren Sektflaschen waren auf den Weg zum Recycling. Ich konnte es nicht glauben, und ging dann eine ziemlich große Runde durch die Stadt, doch überall war das selbe Bild. Es muss eine gewaltige Kraftanstrengung gewesen sein, denn noch wenige Stunden zuvor wurde gefeiert, geböllert und gesoffen, was das Zeug hält. Es müsse hunderte Heinzelmännchen aktiv gewesen sein, um die Stadt innerhalb der kurzen zeit sauber zu kriegen.
Klar kann mensch das als übliche Sauberkeitsneurose ansehen, in der brav alle Probleme unter dem Teppich gekehrt werden. Gewalt ist bekanntlich kein Problem, so lange es innerhalb der eigenen vier Wände passiert. Doch wehe, es geschiet auf offener Strasse; da kommt sofort der Ruf nach mehr Polizei, mehr Kameras, mehr Abschiebungen, mehr Härte,… Und so müssen auch die Strassen dieser Stadt in Ordnung sein in einer Welt, die mehr und mehr aus den Fugen gerät.
Doch ich hab das Gefühl, dass es mehr ist. Es scheint, als wäre die Normalität selbst wütend. Weil sie für eine Nacht das Szepter abgeben musste an den Exzess, an den Rausch. Und weil sie nicht anders kann, weil sie aus Tradition für diese eine Nacht verbannt wird, so müssen zumindest die Spuren davon möglichst schnell beseitigt werden. Okay – am 31. darf gesoffen werden, und okay – am 1. darf noch erholt werden (aber schön sauber); aber für den 2. gibt es keine Ausreden mehr: Da heißt es zurück an die Arbeit, die Geschäfte müssen wieder offen sein, der Rubel muss wieder rollen (das macht er leider auch Silvester), da müssen wieder Urteile gesprochen werden, die Gefängnisse wurden ja nicht umsont gebaut, da müssen wieder Menschen an dern Grenzen krepieren, kurz: die Normalität muss wieder herrschen, und zwar so, als gäbe es nichts anderes als diese Normalität.