My Corona

Der versprochene längere Analyse-Artikel lässt noch auf sich warten. Ich hab nicht die Kraft und noch weniger die Konzentration gefunden,ihn fertig zu schreiben. Außerdem muss er ja deutlich geändert werden. Denn dass, was ich vor einer Woche noch für sinnvoll und wahr hielt, stimmt heute nicht mehr. Stattdessen gibt es als Beginn meiner Corona-Berichte (ich geh davon, dass es länger dauern wird) einen persönlichen Einstieg:

Ich persönlich habe keine Angst vor Virus. Ich hab noch ein paar Jahre bis ich zur Risikogruppe der Ü60 zähle, habe keine bekannten Vorerkrankungen, und bin tendenziell eher fit. Das Risiko, dass Corona bei mir einen kritischen Verlauf nehmen würde, ist äußerst gering.

Die Pandemie als solche kann ich nicht verstehen. Sie übersteigt mein Denkvermögen, meine Vorstellungskraft. So sehr ich mich auch bemühe, ich kann sie nicht verstehen.

Ich hab Angst vor der Quarantäne. Aber ich seh keinen Weg, sie zu verhindern.
Ich hab Angst, andere Menschen anzustecken. Aber ich kann mich dagegen nicht wehren. Ich arbeite im Sozialbereich, in der Betreuung. Da lässt sich Kontakt nicht vermeiden, auch nicht der zu besonders gefährdeten Personen. Doch ich seh keine Alternative dazu. Ich würd mich gerne testen lassen, aber die Möglichkeit dazu gibt es nicht. Die einzige Möglichkeit wäre blau zu machen. Krankschreibungen sind momentan ja kein Problem. Aber das würde nur heißen, dass eine andere Person statt mir in der gleichen Situation wäre. Und wir hatten schon vor dem Ausbruch der Pandemie schon Personalknappheit. Jetzt ist sie noch drastischer geworden. Was bleibt mir also anders über, als das Risiko in Kauf zu nehmen.

Ich merke, wie sich das auch auf mein anderes Leben auswirkt. Ich werde wütend, wenn Leute noch schärfere Maßnahmen fordern. Wenn sie Leute anschwärzen, die sich trotzdem draußen bewegen, sich noch mit Freund*innen treffen. Wenn ich schon in der Arbeit zu einem Risikoverhalten gezwungen werde, dann will ich zumindest in der sogenannte Freizeit mein Risiko selbstbestimmt wählen können. Es ist klar, ich halte im öffentlichen Raum Abstand, ich besuche Freund*innen, die zur Risikogruppe gehören nicht mehr. Aber ich seh nicht ein, warum ich mich bei meinen Kollegin*innen in der Arbeit anstecken darf, bei Bier danach ist aber die Ansteckungsgefahr zu groß?

Ich habe Angst vor der sozialen Barbarei. Schon jetzt sind Sachen möglich, die noch vor wenigen Wochen undenkbar erschienen. Und das ist erst der Anfang, es wird noch schlimmer kommen. Schon jetzt drehen manche Menschen durch. Auf der Straße wirst du ohne Grund angepöbelt. Streit wegen Kleinigkeiten. Eine Stimmung der gegenseitigen Verdächtigungen. Wer hat den Virus schon in sich, wer kann mich anstecken?
Auf der institutionellen Seite werden massenweise soziale Einrichtungen geschlossen. Alle Treffpunkte für Jugendliche, für Senior*innen, für sozial Benachteiligte haben zu! Die ohnehin wenigen Stellen, die im Falle psychischer Krisen Unterstützung anboten, machen nur noch Telefonberatung. Die Tafel, die Menschen mit wenig Kohle mit Essen unterstütze, hat ihren Betrieb eingestellt. Immerhin, die Sozialmärkte haben noch offen, wenn auch mit Eingangskontrollen. Aber in den Fabriken dürfen weiterhin Waffen hergestellt werden. Wenn es dort zu Betriebseinschränkungen/—schließungen, dann wegen Lieferschwierigkeiten, und nicht wegen der Gesundheit der Arbeiter*innen.

Das ist meine größte Angst: Das ich selbst Teil dieser Barbarei werden könnte. Ich bin ja nicht außen vor. In meiner Arbeit wurden alle Freizeitaktivitäten gestrichen. Besuche sind verboten. Und wenn jemand mit der Situation nicht klar kommt, muss ich im schlimmsten Fall die Polizei holen. Auch persönlich merk ich, dass die Anspannung der Zeit sich in mir niederschlägt. Ich bin deutlich nervöser, kann schlechter entspannen. Meine Fähigkeit zur Empathie leidet darunter.

Ich hab Angst, weil jetzt wieder nur auf die gehört wird, die am lautesten schreien. Die zumindest vorgeben, einen Plan zu haben – doch wer hat den schon in diesen Tagen? Dennoch gilt es als Fehler, Unwissenheit und Angst zuzugeben.

Ich hab Angst, dass der Ausnahmezustand bleiben wird – und sei es nur als Möglichkeit im Sinne von: „ Wenn ihr nicht brav seid, wenn ihr nicht oft genug die Hände wäscht, wenn ihr nicht genug Abstand haltet, wenn ihr wagt, unsere Maßnahmen zu hinterfragen, dann gibt es wieder Ausgangssperre!“

Ich hab Angst, dass die jetzt verordnete Einsamkeit die neue Realität. Auch sie war vorher schon da: WhatsApp statt Face to Face Kontakte, Vereinzelung in der Arbeit, in den Wohnungen,.. Jetzt ist das Ganze staatlich vorgeschrieben. Wie kommen wir da wieder raus?
Ich hab Angst, dass wir das verlernen, was den Mensch zum Mensch macht. Liebe, Freundschaft, Solidarität. Das ganze Zwischenmenschliche. Ich habe Angst, dass wir es schon verloren haben. Denn warum würden sonst so viele Menschen immer noch weitreichendere Abschottung fordern mit der Bestrafung jener, die sich daran nicht halten können.

Over and Out
Angst essen Seele auf!